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 | 23.04.2021

Was ist falsch an „Klimaneutralität“?

klimaneutral

Was für eine geniale Idee: Unternehmen berechnen ihre CO2-Emissionen und kompensieren die Emissionen, die sie nicht reduzieren können, freiwillig auf einem transparenten Markt. Wie könnte man sich diesem edlen Konzept widersetzen? Nun, das Problem ist, dass es nicht nur zu schön klingt, um wahr zu sein. Hinter den Kulissen sind einige Aspekte der Deals alles andere als perfekt.

Ein Beitrag von Frank Sprenger

 

Klimastrategien: Ein guter Anfang

 

Immer mehr Unternehmen nehmen den Klimawandel ernst. Ob aus Gewissensgründen oder aus Wettbewerbserwägungen heraus: Unternehmensweite Klimastrategien sind mehr als eine Modeerscheinung. In einigen Branchen geht es buchstäblich ums wirtschaftliche Überleben, z.B.  Energie und Automobil. Andere erhoffen sich vor allem Vorteile am Point of Sale, z.B. Lebensmittel, Mode und Druckwesen. Seriöse Unternehmen bewerten ihre Corporate Carbon Footprints (CCF) und Product Carbon Footprints (PCF) nach internationalen Standards, erstellen Roadmaps zur Reduzierung ihres Fußabdrucks und setzen diese transparent um.

 

Unvermeidbare Emissionen kompensieren

 

In den ersten Jahren dieses Jahrtausends wurde eine brillante Idee entwickelt: Was wäre, wenn freiwillige Märkte geschaffen würden, auf denen Unternehmen in Projekte irgendwo auf dem Planeten investieren könnten, die CO2-Emissionen reduzieren und gleichzeitig zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. Das erste Mal habe ich von diesem Konzept wohl von Ingo Puhl von 500 ppm gehört. Das muss so um 2002 gewesen sein. Junge, war ich beeindruckt. Kaum jemand glaubte jedoch, dass ein solcher Markt zuverlässig geschaffen werden könnte, geschweige denn, dass jemand diese Gutschriften kaufen würde. Und doch hat es funktioniert. Was für eine Leistung.

 

Zweifel an Wirkung und Größe

 

Es dauerte lange Jahre, bis diese Märkte an Bedeutung gewannen. Pioniere - ausgestattet mit Durchhaltevermögen und Überzeugung - schufen kleine Märkte mit strenger Transparenz und Vergleichbarkeit. Jeder erinnert sich an atmosfair. Und natürlich war es eine große Errungenschaft, dass Verbraucher sich ihres Fußabdrucks - sagen wir im Falle einer Flugreise - bewusst wurden und Geld für den "Ausgleich" ihrer Emissionen zahlten. Anfangs gab es Zweifel an den tatsächlichen Auswirkungen dieser Kompensationen. Bald wurden transparente Labels wie der "Gold Standard" etabliert, die die Projekte und ihre CO2-Reduktionen verifizieren. Doch ein entscheidender Punkt ist bis heute umstritten: die "Zusätzlichkeit". Hätten diese Projekte ohne die ausländischen Investitionen wirklich nicht stattgefunden? Diese systematischen Zweifel bleiben bis heute bestehen, vor allem in dem weit verbreiteten Bereich des Bäume Pflanzens.

Ein weiterer Zweifel bezieht sich auf die Menge der auszugleichenden Emissionen. Natürlich gilt: Je kleiner der berechnete Fußabdruck ist, desto weniger Emissionen müssen reduziert werden und desto kleiner ist die Menge der auszugleichenden Emissionen, um Null zu erreichen. Daher ist eine transparente Berechnung der Emissionen eines Unternehmens nach internationalen Standards zentral. Und natürlich müssen diese Berechnungen von unabhängigen Experten bewertet oder zumindest verifiziert werden. Ganz zu schweigen von den immer noch andauernden wissenschaftlichen Debatten über den tatsächlichen Fußabdruck. Bei Flugreisen zum Beispiel berechnen Unternehmen meist nur die direkten Auswirkungen der Kerosinverbrennung, die auf etwa 2,5 % der globalen Erwärmung geschätzt werden. Wissenschaftler drängen jedoch darauf, auch den sogenannten Strahlungsantrieb zu berücksichtigen, was dann bis zu 3,5 % der globalen Erwärmung entspricht. Ein signifikanter Unterschied.

 

Unternehmens-Roadmaps

 

Eine wachsende Anzahl an Unternehmen nimmt mittlerweile die Erwartungen ihrer Stakeholder ernst und entwickelt langfristige Roadmaps mit Umsetzungsplänen. Hört man auf die finanzielle Logik, werden die Reduktionsmaßnahmen mit dem niedrigsten Preis pro Tonne bevorzugt. Die Reduktion der eigenen Emissionen ist meist technologisch anspruchsvoll und teuer. Gefolgt von der Erzeugung eigener erneuerbarer Energie und dem Zukauf erneuerbarer Energie. Nun raten Sie mal, wie die Kompensation in dieser Rechnung abschneidet: meist mit Abstand am billigsten. Kein Wunder, dass sich Unternehmen, die glauben, der Welt ein "Null-Ziel" zu schulden, um Kompensation reißen. Solange sie billig ist.

Offensichtlich kann es leicht vorkommen, dass billig verfügbare Kompensationslösungen teurere Reduktionsmaßnahmen verdrängen. Es sei denn, verantwortungsbewusste Unternehmen entwickeln Quoten - wie Audi: Für jede Tonne kompensierter Emissionen muss das Unternehmen zuvor eine bestimmte Quote an anspruchsvolleren Maßnahmen umgesetzt haben. Das ist bis heute nicht gängige Praxis. Das kann - wenn Unternehmen auf die Kompensationsflüsterer hören - zu unangenehmen Situationen in den Vorstandsetagen führen: Nicht selten werden wirtschaftlich sinnvolle Reduktionsmaßnahmen mit dem Hinweis abgelehnt, dass das Unternehmen ja schon "klimaneutral" sei, oder, dass die Kompensation pro Tonne viel billiger sei. Man stelle sich die Frustration eines gut vorbereiteten Nachhaltigkeitsmanagers vor – und den Effekt auf das globale Klima.

 

Verwirrung des Verbrauchers?

 

Schlimmer noch: Das Label "klimaneutral" auf Konsumgütern kann zu einem Verbraucherverhalten mit negativen Auswirkungen auf das globale Klima führen. Während Verbraucher natürlich Unternehmen mit soliden Strategien und Produkten mit einem geringeren ökologischen Fußabdruck belohnen sollten, ist das Label "klimaneutral" nicht unbedingt zielführend. In einer einfachen Welt, in der es in einem Marktregal nur ein Produkt mit diesem Label gibt, ist das in Ordnung. Es ist in der Regel die bessere Wahl. Doch bald wird es mehr als eines geben. Und in Ermangelung einer Information zum tatsächlichen CO2-Ausstoß VOR der Kompensation kann der klimabewusste Verbraucher keine fundierte Entscheidung treffen. Logitech macht es richtig vor: Sie geben die tatsächlichen CO2-Emissionen plus ein "klimaneutral"-Label an.

Außerdem hinterlässt "klimaneutral" bei einem uninformierten Verbraucher den Eindruck, als ob sein Konsum keine negativen Auswirkungen auf das globale Klima hätte. Das ist nicht der Fall – und all die anderen unerwünschten Nebeneffekte dieses Produkts sind natürlich auch nicht berücksichtigt. Außerdem wird in dem sich immer weiter ausbreitenden Marketingspiel eines Tages ein cleverer "Klimavertriebler" mit einer brillanten Idee aufwarten: "Was wäre, wenn Sie nur einen winzig kleinen Teil eines Kompensationsprojekts mehr kaufen würden?". Das Produkt könnte mit "klimapositiv oder -negativ" (je nachdem, was Sie bevorzugen) gekennzeichnet werden. Impliziert: je mehr man konsumiert, desto besser für das Klima. Absurd.

 

Interessenkonflikt

 

Ein weiteres heikles Thema ist das "clevere" Verhalten einiger "One-Stop-Player" da draußen. Während seriöse Akteure verstanden haben, dass die Berechnung der Emissionen eines Unternehmens oder eines Produkts und das gleichzeitige Anbieten von Kompensationsprojekten einen potenziell schwerwiegenden Interessenkonflikt darstellt, scheinen einige Akteure diesen Konflikt gar nicht zu sehen. Oder vielleicht stören sie sich auch einfach nicht daran. Wie viel Interesse haben Sie daran, den wahren Umfang der Emissionen Ihres Kunden zu ermitteln, wenn Sie Gefahr laufen, ihn mit hohen Rechnungen zu vergraulen?

Erschwerend kommt hinzu, dass die Qualifikation der "Nachhaltigkeitsberater" oft eklatant fehlt. Wenn Sie auf der Suche nach einer absoluten, schockierenden Zeitverschwendung an einem verregneten Sonntagnachmittag sind, probieren Sie es einfach mal aus: Schauen Sie sich die Profile von kürzlich ernannten "Nachhaltigkeits- oder Klimaexperten" auf LinkedIn an. Sie werden überrascht sein...

 

Gewinnaufschläge

 

Letztendlich haben die Geschäftsmodelle mancher Anbieter wenig mit fundierter Klimaberatung oder ernsthafter Reduzierung des Fußabdrucks zu tun. Sie sind wenig getarnte Händler von billigen Zertifikaten mit saftigen Aufschlägen. Eine Tatsache, die einige von ihnen nicht einmal in ihren Bilanzen ausweisen. Es gibt ehrliche Akteure da draußen, die strenge Richtlinien für maximale Aufschläge haben, aber das trifft beileibe nicht auf alle zu. Und bisher haben sie sich noch nicht geäußert. Aber das werden sie, bald.

 

Bereinigung einer lohnenswerten Sache

 

Die freiwillige Kompensation von Emissionen, die nicht reduziert werden können, hat einen fantastischen Nutzen für das globale Klima, wenn sie korrekt und transparent durchgeführt wird. Allerdings müssen diese Märkte von Akteuren befreit werden, die im Rausch des Erfolgs die ursprüngliche Intention ein wenig aus den Augen verloren zu haben scheinen. Im Interesse des Erhalts und des Wachstums eines globalen Kompensationsmarktes, der den globalen Klimazielen und den lokalen Gemeinschaften zugutekommen kann, und im Interesse ehrlicher und seriöser Marktteilnehmer, muss das Licht der Transparenz auf zweifelhafte Aktivitäten und Praktiken geworfen werden.

Hätten wir heute noch den Ablasshandel der katholischen Kirche, der sinnvolle karitative Projekte finanziert, wenn nicht die Gier überhandgenommen hätte? Wer weiß, aber für den freiwilligen CO2-Ausgleich ist es noch nicht zu spät.