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 | 18.05.2022

 

Komplexität vs. Bullshitting – Auswirkungen des Ukrainekrieges auf die Nachhaltigkeit

 
Die fors.earth Geschäftsführer Frank Sprenger und Dr. Alexis Katechakis im Gespräch
 

Krieg in Europa –ein Szenario, das noch vor Kurzem undenkbar schien. Und doch sehen wir uns seit mehreren Monaten mit dem Unvorstellbaren konfrontiert. Abgesehen von dem unbeschreiblichen Leid, das der Krieg über Tausende von Menschen gebracht hat, zwingt er uns auch, alte Gewissheiten aufzugeben. Trotzdem sind neben der vielzitierten „Zeitenwende“ positive Veränderungen weiterhin möglich, finden unsere beiden Geschäftsführer Frank Sprenger und Dr. Alexis Katechakis. Sie haben sich im fors TALK ausgetauscht, welche Auswirkungen Krieg auf Nachhaltigkeitsbemühungen hat, ob globale Erschütterungen die Transformation verlangsamen und warum das Verhalten von Unternehmen unter dem Eindruck des Krieges Anlass zur Hoffnung gibt. *

Was bedeutet der Krieg für Nachhaltigkeit?

Alexis Katechakis (AK): Ich bemerke einerseits eine Veränderung von gesellschaftspolitischen Prioritäten. Das ist zwar nachvollziehbar, aber die großen Veränderungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, wie Klimawandel oder der Verlust von Biodiversität, geraten dadurch in den Hintergrund. Die Umverteilung von Haushalten mag kurz- oder mittelfristig sinnvoll sein, aber es wird langfristig aus dem Blick verloren, was unsere eigentlichen Lebensgrundlagen sind. Ich nehme aber andererseits auch wahr, dass Nachhaltigkeit in dieser Situation an Bedeutung gewinnt. Die Themen der Nachhaltigkeit haben viel mit Fairness oder Friedensstiftung zu tun, weil es um einheitliche Lebensgrundlagen und gute Lebensqualität für alle Menschen geht. Wenn es uns gelänge, mehr Lebensqualität für alle herzustellen, würde meiner Ansicht nach die Wahrscheinlichkeit für solche Konflikte kleiner werden.

Frank Sprenger (FS): Auch ich gehe davon aus, dass Umschichtungen im Haushalt eher kurzfristiger Natur bleiben werden. Ich glaube, die Doppelherausforderung von Corona und dem Ukrainekrieg wird in der Gesellschaft die Frage aufwerfen, was für unsere Lebensqualität wirklich wichtig ist. Auch die unsäglichen Phrasen, das „virtue signalling“ mit leeren Aussagen wie „Frieden ist mir wichtig!“ oder „Menschenrechte sind mir wichtig!“, wird massiv auf die Probe gestellt werden. Wir müssen uns alle hinterfragen, was die Konsequenzen unseres Konsumverhaltens und unseres ökonomischen Verhaltens sind.

Wird der „Doppelschlag“ aus Corona und Ukrainekrieg die großen Transformationen eher beschleunigen oder verlangsamen?

AK: Hier gilt es verschiedene Ebenen zu berücksichtigen, neben den gesellschaftspolitischen auch die wissenschaftlich notwendigen Veränderungen. Schwer einzuschätzen ist die psychologische Ebene. Was machen diese beiden globalen Erschütterungen mit den Menschen? Ich nehme da ein großes Spektrum wahr: Menschen, die so betroffen sind, dass sie sich in einer Art Schockstarre befinden, andere, die rational damit umgehen und wieder andere, denen alles egal ist, bei denen das persönliche Vorankommen an erster Stelle steht.

FS: Ich denke, dass wir uns noch in einer Art Schockstarre befinden, deshalb mag es sich auch zunächst so anfühlen, als würde die Transformation verlangsamt. Ich glaube aber, das Gegenteil wird mittelfristig der Fall sein. Man merkt bereits, dass sich die Menschen bewegen, dass sie ins Handeln gekommen sind und sich überlegt haben, was man konkret tun kann. Bei fors.earth arbeiten wir an langfristigen Projekten und wissen, dass die Proof Points [bereits umgesetzte Nachhaltigkeitsmaßnahmen und Best Practices in Unternehmen] und ihre Frequenz zunehmen werden. Die Menschen werden immer besser verstehen, dass das Narrativ „Wir kommen an unsere planetaren Grenzen, alles wird sich verändern!“ wesentlich konsistenter und wesentlich verlässlicher ist als das Narrativ „Keine Sorge, kriegen wir schon alles hin mit ein bisschen Klimaneutralität!“. In dieser Hinsicht werden wir eine Riesenbeschleunigung erleben. Man muss sich nur die Reaktion von Unternehmen anschauen, jetzt Geschäft in Russland einzustampfen. Das hätte noch vor wenigen Wochen kein Mensch für möglich gehalten. Manche Unternehmen ziehen massive Konsequenzen entgegen ihren ökonomischen Interessen – das finde ich faszinierend.

AK: Ganz unabhängig vom Krieg in der Ukraine sehe ich auch, dass immer mehr Unternehmen Verantwortung übernehmen. Verantwortung im Sinne von Handeln. Das stimmt mich sehr positiv, denn ich habe in den letzten zehn Jahren eher den Eindruck gehabt, dass die gesellschaftspolitischen Systeme zu langsam sind, um auf Veränderungen zu reagieren, geschweige denn proaktiv mit ihnen umzugehen. Im Ukrainekrieg erleben wir, dass Unternehmen innerhalb kürzester Zeit ihr Verhalten ändern. Wenn sich das übertragen ließe auf die anderen großen Herausforderungen, würde mir das viel Hoffnung machen. Wir erleben aber andererseits eine Verschiebung von Abhängigkeiten bzw. geopolitischen Kooperationen. Es wäre fatal, wenn sich jetzt andere – ich nenne es bewusst – „Fronten“ bilden würden, weil man meiner Meinung nach all die Herausforderungen, die uns bevorstehen, nur gemeinschaftlich lösen kann. Wenn wir nun neue Lager ausbilden – die Achse Russland-China vs. die klassischen westlichen Industrieländer – schaffen wir uns neue Probleme an anderer Stelle.

Welche Veränderungen kommen auf Unternehmen zu in Bezug auf Nachhaltigkeit und Verantwortung? Welche Prozesse finden in den Köpfen statt?

AK: Unternehmen müssen sich noch stärken überlegen, wie sich die globalen Veränderungen auf ihre Geschäftstätigkeit auswirken. Ganz originär aus einer wirtschaftlichen Perspektive: Was bedeutet es für die Geschäftsentwicklung, für die Wettbewerbszukunftsfähigkeit, für Produkte und Dienstleistungen? Zunehmend eine Rolle wird hier die Akzeptanz spielen, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Belegschaft. Mitarbeiter:innen hinterfragen viel öfter als früher, wie sich ein Unternehmen positioniert, ob es authentisch und glaubhaft ist und seine gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt. Diese Bottom-Up-Bewegung wird sich stärker als bisher auf die Prozesse, Strukturen und Hierarchien in Unternehmen auswirken. Das empfinde ich als sehr positiv, weil wir eine intensivere Vernetzung der Gesellschaft mit der unternehmerischen Ebene benötigen. Jeder Mensch, der in einem Unternehmen arbeitet, ist nicht nur Mitarbeiter:in, sondern auch ein Individuum mit persönlichen Werten und Vorstellungen für die Gestaltung des eigenen Lebens, aber auch der Gesellschaft.

FS: Mitarbeitende werden auch oft unterschätzt. Diese geben sich falschen Narrativen nicht mehr hin. Sie müssen Vertrauen entwickeln, dass die Leitung ihres Unternehmens in der Lage ist, in diesen unsicheren Zeiten zu navigieren und eine Route durch die Terra Incognita zu finden. Ich sehe da eine echte Veränderung, eine Offenheit wider das Bullshitting, hin zu echter Performance und einem offenen Umgang auch und gerade mit Unsicherheit.

„To end on a positive note“ – Welche positiven Auswirkungen könnte die derzeitige Situation auf die Nachhaltigkeit haben?

AK: Die Dynamik, die wir jetzt sehen, wird – und muss! – sich weiter beschleunigen. Ich hoffe außerdem, dass Fakten wieder eine größere Rolle spielen und insbesondere die Wissenschaft mehr Gehör findet. Die Zusammenhänge sind nicht immer einfach zu verstehen, aber es gibt Menschen, die in der Lage sind, valide Informationen zu geben, die als Handlungsgrundlage dienen können. Mein größter Wunsch wäre es, dass wir vor dem Hintergrund der Unsicherheit wieder bewusst kooperativ zusammenwirken. Ob innerhalb von Unternehmen, entlang von Wertschöpfungsketten oder sogar über ganze Gesellschaften hinweg. Gerade in Deutschland stehen wir uns mit unseren prozessual-analytischen Herangehensweisen manchmal selbst im Weg. Die Zukunft ist nicht so planbar, wie wir uns das vielleicht wünschen würden. Eine bewusste Kooperation könnte dazu führen, dass wieder mehr aufeinander gehört wird, dass sich Achtsamkeit entwickelt und wir gemeinsam mit einer gewissen Improvisations- und Innovationskraft zu Lösungen finden, die in der Vergangenheit keine so große Rolle gespielt haben.

FS: Ich sehe das ganz ähnlich: Nach einer Phase der Lähmung macht sich jetzt vorsichtiger Optimismus breit. Eine Krise wie der Ukrainekrieg rückt unsere Prioritäten wieder gerade und führt uns vor Augen, was wirklich wichtig ist. Es geht eben nicht um den nächsten Urlaub, sondern es geht beispielsweise um Zugang zum Gesundheits- oder zum Bildungssystem. Und was ich immer stärker wahrnehme: Einfache Narrative sind tot. Echte, leider manchmal etwas komplizierte Fakten werden unsere Zukunft bestimmen.


* Das ursprüngliche Gespräch fand im April 2022 statt und wurde zu Zwecken der besseren Lesbarkeit leicht gekürzt und redigiert.