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 | 22.09.2023

Die 40.000.000.000.000 €-Industrie – Zeit Biodiversität als Anlage-Klasse zu betrachten

 


Für ein 10-köpfiges ESG-Team eines Asset Managers mit rund 250 Mrd. Assets under Management veranstalteten unser Senior Berater für Sustainable Finance Hendrik Leue und unser ehemaliger geschäftsführender Gesellschafter sowie Meeresbiologe Dr. Alexis Katechakis eine Deep Dive Session zum Thema Biodiversität, die es dem Team ermöglichen sollte, das vermittelte Wissen innerhalb des Unternehmens weiterzutragen.

Hendrik, warum ist ein Finanzdienstleister an dem Thema Biodiversität interessiert?

Finanzdienstleister nehmen grundsätzlich eine Schlüsselposition in der Finanzierung von Unternehmen und Projekten ein. Das gesteigerte Interesse kann aus drei Perspektiven heraus betrachtet werden:  

1. Gesetzliche Richtlinien
Während die CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive) die Nachhaltigkeitsberichterstattung regelt, definiert die SFDR (Sustainable Finance Disclosures Regulation) die Offenlegungspflichten für den Verkauf von Finanzprodukten. Die SFDR verlangt von Vermögensverwaltern, vorgeschriebene und standardisierte Offenlegungen darüber bereitzustellen, wie ESG-Faktoren sowohl auf Unternehmens- als auch auf Produktebene integriert werden. Ein erheblicher Teil der SFDR gilt für alle Vermögensverwalter, unabhängig davon, ob sie einen ausdrücklichen ESG- oder Nachhaltigkeitsfokus haben oder nicht.

2. Kunden-Nachfrage
Kunden fordern vermehrt nachhaltigere Anlage- und Finanzierungsmöglichkeiten. Auch Biodiversitätskriterien gewinnen dabei an Relevanz. Durch die Identifikation von Risiken und Chancen im Zusammenhang mit Biodiversität können Finanzunternehmen ihren Kunden maßgeschneiderte Lösungen anbieten und sich dadurch vom Wettbewerb differenzieren.

3. Risiko-Vermeidung in Anlage-Produkten
Unternehmen, die sich positiv für die Biodiversität engagieren, sind langfristig erfolgreich und minimieren ihr Risiko. Durch den Schutz und die Erhaltung der natürlichen Ressourcen können potenzielle Geschäftsrisiken – wie negative Auswirkungen des Klimawandels, Wasserknappheit oder Unterbrechungen in der Lieferkette – abgewendet werden. Finanzprodukte, die das berücksichtigen, performen möglicherweise besser.

 

Alexis, was sind Ökosystemleistungen? Und kann man diese beziffern?

Als Ökosystemleistungen (Ecosystem Services) werden sogenannte bereitstellende, regulierende, unterstützende sowie kulturelle Leistungen bezeichnet. Der wirtschaftliche Wert all dieser Ökosystem- und Biodiversitätsleistungen wird jährlich mit 40.000.000.000.000 € beziffert und entspricht der Hälfte des globalen BIP.
Lawinenschutz-Barrieren aus Stahl statt Lawinenschutz-Wälder kosten rund eine Million Franken pro Hektar. Im Kanton Bern schützen rund 24.000 Hektar Wald Siedlungen und Verkehrswege vor Lawinen.
Schauen wir rüber nach Amerika, sind es Mangroven-Wälder, die einen wesentlichen Beitrag zur Wertschöpfung und Risikominimierung im Versicherungssektor leisten. Indem sie Küstengebiete schützen, reduzieren sie Sachschäden um mehr als 16 % – das macht mehr als 82 Milliarden US-Dollar pro Jahr aus. Der Sachschaden durch Hurrikan Irma in Florida wurde so um 25 % und das Ausmaß des Sachschadens um 1,5 Milliarden US-Dollar reduziert.
Ein anderes Beispiel sind Haie. Sie sorgen für ein gesundes Gleichgewicht in unseren Ozeanen und helfen so im Kampf gegen die Klimakrise und verfügen zudem über DNA, die ein Schlüssel zu wichtigen medizinischen Fortschritten sein kann, z. B. schnellere Wundheilung, Behandlung von Krebs und Autoimmunerkrankungen. Erste Medikamente befinden sich bereits in der Test-, weitere in der Entwicklungsphase. Der weltweite Markt für Meerespharmazeutika belief sich 2020 auf 26,50 Milliarden US-Dollar und soll 2027 auf 48,13 Milliarden US-Dollar anwachsen.  

 

Also könnte man Biodiversität als eine sehr lohnende Anlageklasse betrachten. Warum gehen wir so schlecht mit ihr um?

Wir sehen hier vier grundsätzliche Probleme.

Zum einen hat sich die falsche Einstellung verbreitet, Naturgüter seien kostenlos. Wie es Professor Dr. Rainer Grießhammer (Vorstand der Stiftung Zukunftserbe und ehemaliger Geschäftsführer des Öko-Instituts) auf den Punkt brachte: „Wir kleben an den herrlichen Werken der Vergangenheit (...) an dem Glauben, dass Gemälde 80 Millionen wert sind, Fußballer bis zu einer Milliarde, aber die Natur umsonst ist.”

Zum anderen sehen wir eine verlorene Verbindung – wir haben uns von der Natur abgekoppelt. Was sich vielleicht esoterisch anhört wird am Sprachgebrauch sehr deutlich. Wir sprechen von einer Umwelt, die uns umgibt. Dabei stellen wir uns unterbewusst in den Mittelpunkt. So, wie wir von unseren Mitbürgern und Mitmenschen sprechen, sollten wir auch von unserer Mitwelt sprechen.  

Darüber hinaus haben wir einen befangenen Fokus. Wortwörtliche Hidden Champions – wie Bakterien, die u. a. den Boden erhalten und regenerieren, Überschwemmungen indirekt kontrollieren, Dürreperioden indirekt mildern, Schadstoffe filtern und Abfall assimilieren, haben fast keine Befürworter. Denn es ist einfacher, dafür zu werben, dass ein Unternehmen Eisbären unterstützt, als seinen Kunden zu sagen, dass es in die Verbesserung der Bodenqualität investiert. Das muss sich ändern.

Last but not least zeichnet sich die Art und Weise, wie mir mit unserer Mitwelt umgehen, durch maßlosen Hochmut aus. An Land bewegt der Mensch heute pro Jahr mehr Sedimente und Gesteine als alle natürlichen Prozesse wie Erosion oder Flüsse zusammen.
Unter Wasser laufen Bestrebungen den Tiefseebergbau zu “regulieren”, dabei sind 95 % des offenen Ozeans noch nicht einmal erforscht. Unter Tiefseebergbau wird die Gewinnung von Mineralien aus dem Meeresboden verstanden. Im Vordergrund steht hier der Abbau von Manganknollen, die mit wertvollen Rohstoffen (Kobalt, Nickel, Mangan) angereichert sind. Angesichts der Tatsache, dass sich der Bedarf an Metallen in den kommenden Jahrzehnten vervielfachen wird, wittern Unternehmen hier große Geschäfte. Allerdings wird diese Praxis nach Angaben der Environmental Justice Foundation voraussichtlich jährlich Millionen Tonnen Meeresbodensedimente stören und Kohlenstoff, der sich über Millionen von Jahren angesammelt hat, in den ozeanischen Kohlenstoffkreislauf freisetzen. Der allgemeine Mangel an Wissen über die potenziellen Vor- und Nachteile dieser Branche setzt Finanzinstitute erheblichen politischen, regulatorischen und Reputationsrisiken aus. Darüber hinaus besteht nach wie vor erhebliche Unsicherheit über die Wirtschaftlichkeit und die Ergebnisse des Tiefseebergbaus. Vor diesem Hintergrund wurde von der Finance for Biodiversity (FfB) Foundation kürzlich eine koordinierte Erklärung vor der Versammlung der Internationalen Meeresbodenbehörde (ISA) veröffentlicht, die von 37 Finanzinstituten unterzeichnet wurde, das sog. "Global Financial Institutions Statement to Governments on Deep Seabed Mining". „Die Annahme, dass der Tiefseebergbau eine Schlüssellösung für die Bereitstellung von Mineralien ist, die für den wirtschaftlichen Übergang zur Erreichung der Klimaschutzziele erforderlich sind, ist heftig umstritten. Neue Forschungsergebnisse zeigen bereits, dass mehr Investitionen in die Kreislaufwirtschaft ein effektiverer Weg sein könnten, um den Übergang zu einer Netto-Null-Wirtschaft zu erreichen“, heißt es in der Erklärung. „Der Tiefseebergbau könnte zu irreversiblen Schäden an komplexen, einzigartigen und äußerst artenreichen Meeresökosystemen führen, die für fast die Hälfte der Weltbevölkerung wichtige wirtschaftliche Quellen darstellen. Der Wert der Meeres- und Küstenressourcen wird vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen auf 3 Billionen US-Dollar pro Jahr geschätzt. Daher sind mehr wissenschaftliche Forschung und Analysen erforderlich, um die Risiken rund um den Tiefseebergbau zu verstehen, fundiertere Entscheidungen zu treffen und irreparable Schäden zu vermeiden“, so Saker Nusseibeh, CEO von Federated Hermes Limited. Obwohl im Juli auf der Konferenz der verantwortlichen Internationalen Meeresboden-Behörde ISA in Jamaika hitzig diskutiert wurde (immer wieder wurden Sitzungen unterbrochen), fehlt es nach wie vor an einem Regelwerk. In den nächsten zwei Jahren soll es weitere Sitzungen geben, 2025 will man mit den Regularien ein Stück weiter sein. Trotzdem können schon Abbauanträge für den Tiefseebergbau gestellt werden, was wiederum Druck auf die weiteren Verhandlungen ausüben könnte. Kritik gibt es auch dafür, dass die Debatten häufig hinter verschlossenen Türen geführt werden: „Diese Debatten müssen transparent stattfinden und sie müssen vor allem auch geöffnet werden für wissenschaftliche Erkenntnisse aus unterschiedlichen Fachdisziplinen. Und ob da unten eine neue Rohstoffindustrie eingeführt wird, das geht alle an.“ (Britta König, WWF) BMW, VW und Renault haben sich verpflichtet, erst einmal keine Rohstoffe aus der Tiefsee zu nutzen.
Die Debatte um den Tiefseebergbau zeigt sinnbildlich, wie wir zu oft in die Ökosysteme eingreifen. Der Journalist Dirk Steffens fasste das gut zusammen: „Wir verhalten uns wie ein Affe am Schaltpult eines Kernkraftwerks. Er ist schlau genug, die Tasten zu benutzen, aber er hat keine Ahnung, was passiert, wenn er eine bestimmte Taste drückt. Wenn es gut läuft, geht nur auf der Toilette das Licht aus. Wenn die Dinge schlecht laufen, kommt es zur Kernschmelze.“

 

Hendrik, welche Chancen bestehen für Investoren mit Blick auf Biodiversität?  

Es besteht bei der Finanzierung von Renaturierung und Wiederherstellung von Ökosystemen eine unglaubliche Finanzierungslücke in Höhe von 4,1 Billionen US-Dollar. Bisher gibt es jedoch nur bescheidene Ansätze, wie etwa den jüngsten Debt-for-Nature-Swap zum Schutze der Galapagosinseln, diese Investitionssummen auch für private Investoren interessant zu machen. Daher ist das Thema Biodiversität bei Finanzinstituten bisher weniger als Chance denn als konkretes Risiko für Bestandsportfolios aufgekommen.

 

Warum sollten Finanzinstitutionen – wie Banken und Versicherungen – Biodiversitätsrisiken besser managen?    

Gerade für stark diversifizierte, sogenannte „universal investors“, sind die systemischen Risiken aus der Reduktion der Artenvielfalt schon direkt spürbar. Das trifft vor allem Versicherer und große Pensionskassen, zunehmend aber auch spezialisiertere Investoren.  

Bisher verstehen Finanzinstitute ihre Risiken im Zusammenhang mit Biodiversität nicht. Was auch dazu führt, dass diese Risiken gar nicht in das Risiko-Rendite-Profil eingepreist werden können.  

Abhilfe soll die Taskforce on Nature-related Financial Disclosures (TNFD) schaffen, die am Vorbild TCFD (Task Force on Climate Related Financial Disclosures) angelehnt ist. Zwar wird es noch ein weiter Weg sein, bis Investoren helfen können den Schutz der Artenvielfalt in konkrete Maßnahmen zu fassen. Jedoch ist die Analyse der eigenen Abhängigkeiten und des Risikos potenzieller sich daraus ergebender Verluste ein wichtiger erster Schritt.  

Grundsätzlich sollten wir uns die Worte von Johann Rockström – Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung – vor Augen halten: „Baumschützer und Aktivisten sind sehr wichtig, aber sie können das nicht alleine wuppen. Wir brauchen auch die Banker und Führungskräfte.“ Die Finanzindustrie hat enorme Hebel und sollte sich ihrer Verantwortung bewusst sein.

TNFD hat dazu mit LEAP einen integrierten Bewertungsprozess für naturbezogenes Risiko- und Chancenmanagement entwickelt. Wir empfehlen ihm zu folgen, denn TNFD dürfte zum Standard für die Offenlegung naturbezogener Finanzen werden. Die endgültigen Versionen werden im Herbst 2023 veröffentlicht. Die ersten zwei Säulen des LEAP-Prozesses – locate und evaluate – legen einen Fokus auf die Analyse. Dabei geht es im Sinne der doppelten Wesentlichkeit darum zu erkennen, welche Auswirkungen die eigene Finanzierungstätigkeit auf die Artenvielfalt hat (inside-out Perspektive) und zum anderen, welche Folgen die Veränderung der Artenvielfalt auf das Risikoprofil des Portfolios (outside-in) hat. Technisch-methodisch ist das sicher nicht einfach durchzuführen, vor allem wenn man Portfolios über verschiedene Asset-Klassen und Märkte hinweg verwaltet. Es gibt auch noch keine standardisierte Messmethode oder Kennzahl zur Messung des eigenen Biodiversitäts-Footprints, wie es etwa mit CO2 beim Klimaschutz der Fall ist. Jedoch ist in den letzten Jahren hier enorm viel Arbeit in neue Tools und Messmethoden geflossen, die sukzessive auch praxistauglich sind.  

In jedem Fall lohnt es sich den ersten Schritt zu gehen. Bevor eine umfängliche Analyse vorgenommen wird, gehen daher manche Institute den Weg einer vorläufigen, oft qualitativen Heatmap, die zu ersten strategischen Ableitungen taugt und den Ball in Sachen Biodiversität ins Rollen bringen kann.  

Welche konkreten Fragestellungen bei der Entwicklung dieser Heatmap zielführend sind, verraten wir Ihnen gerne. Sprechen Sie uns an.

Hier erhalten Sie einen Einblick, wie wir dem eingangs erwähnten internationalen Asset Manager dabei geholfen haben, sein ESG-Team zu Biodiversität fit zu machen.