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 | 06.11.2023

Achillessehne Arktis (2/3):
Die Erschließung der Arktis – wirtschaftliche Verlockungen, die wie nachhaltige Chancen wirken

 


In unserer dreiteiligen Serie „Achillessehne Arktis” erklären unsere Senior Expertin für Meeresthemen und Biodiversität Prof. Dr. Dr. h. c. Karin Lochte und Meeresbiologe Dr. Alexis Katechakis warum die Arktis so wichtig ist (Teil 1), welche wirtschaftliche Verlockungen in der Erschließung der Arktis liegen, die wie nachhaltige Chancen wirken (Teil 2) und wie wir die Arktis schützen können – auch damit sie uns schützen kann (Teil 3).

Alexis, welche wirtschaftlichen Verlockungen sind durch das schwindende Eis für Unternehmen groß und wirken von Weitem wie nachhaltige Chancen?  


Erste vermeintliche Chance: Kürzere Transportwege  


Durch das schmelzende Eis wurden neue Schifffahrtsrouten durch den Arktischen Ozean erschlossen. Der Verkehr ist in nur 3 Jahren um 430 % gestiegen. Und die Handelsschiffe brechen das Eis, das wir brauchen, weiter, während der Lärm ihrer Schiffsmotoren und -schrauben das Leben im Meer stört. Die meisten Schiffe verbrennen Schweröl, das die Luft verschmutzt und das Eis mit Ruß verdunkelt. Dadurch wird die Albedo des Eises reduziert und die Schmelze beschleunigt. Zur Größenordnung: Die 15 größten Containerschiffe der Welt stoßen mehr Schadstoffe aus als alle Autos zusammen. Zudem riskieren schwerölbetriebene Schiffe im Arktischen Ozean Ölverschmutzungen in einem abgelegenen Ökosystem, in dem die Beseitigung von ausgetretenem Öl schwierig oder unmöglich ist. Im Arktischen Ozean sind auch viele nuklearbetriebene Eisbrecher unterwegs, die eine weitere Bedrohung für diesen sensiblen Lebensraum darstellen können.

Es reicht nicht aus, in den internationalen Gewässern des Arktischen Ozeans den Einsatz von schwerem Treibstoff zu verbieten oder die Abgasreinigung vorzuschreiben, denn der meiste Schiffsverkehr verläuft innerhalb der Hoheitsgebiete der Arktischen Anrainerstaaten. Jeder Treibstoff der Handelsschiffe verursacht Umweltverschmutzung.  Zudem gibt es keine nachweislich wirksame Methode, um mögliche Ölverschmutzungen einzudämmen, geschweige denn zu beseitigen – insbesondere in den abgelegenen, eisigen arktischen Gewässern. Das auf Grund Laufen der Exxon Valdez 1989 – die schlimmste Ölkatastrophe bis zum Blowout auf der Deepwater Horizon 2010 – zeigt, wie schwierig es ist, eine Ölpest zu bewältigen. Die Umwelt trägt auch 30 Jahre später noch die Narben davon.  

Daher gibt es keine umweltfreundliche Schifffahrt im Arktischen Ozean. De facto ist jedes Schiff eines zu viel. Die Eröffnung neuer Schifffahrtsrouten nördlich des Polarkreises ist somit keine nachhaltige Chance, sondern kann die massive menschgemachte Klimaveränderung verstärken sowie zum Verlust arktischer Biodiversität beitragen. Durch die Nordwest-Passage werden Schifffahrtswege zwar abgekürzt (der Seeweg zwischen Europa und Asien, Rotterdam – Tokio, verkürzt sich von der bisherigen Route durch den Sueskanal mit 21.100 Kilometern auf 15.900 Kilometer) und es wird weniger CO2 ausgestoßen, allerdings ist das Ökosystem in der Arktis zu sensibel. Dieser Seeweg schadet mehr, als dass er nützt.  
 

Zweite vermeintliche Chance: Energievorkommen

Innerhalb der 200-Seemeilen-Zone vor ihrer Küste dürfen die Arktis-Anrainer-Länder das Meer und den Grund wirtschaftlich nutzen. Wer belegt, dass „sein“ Festlandsockel weiter als 200 Seemeilen ins Meer ragt, kann auch größere Teile des Ozeanbodens für sich reklamieren. Das versucht zum Beispiel Russland mit dem Lomonossow-Rücken, der angeblich die natürliche Verlängerung Sibiriens ist. Auch Kanada und Grönland melden weitreichende Gebietsansprüche an, über die die „Festlandssockelgrenzkommission“ (Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels – ein Organ des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen) entscheiden muss. Sie verlangt umfassende Daten zu Meerestiefen und zur Dicke der Sedimente. Daraus bestimmt sie, wo der Festlandsockel endet.

Wissenschaftler warnten bereits 2015 davor, das Öl und Gas, das der arktische Meeresboden birgt, zu nutzen: In jedem Szenario, das den globalen Temperaturanstieg auf „deutlich unter 2°C” begrenzt, muss es im Boden bleiben. Dies hält einige Länder aber nicht davon ab, seismische Tests und Bohrungen voranzutreiben. Zu groß scheint die Verlockung: Dem Geologischen Dienst der USA (USGS) zufolge birgt die Arktis-Region 13 % der vermuteten Ölressourcen der Erde und 30 % der förderbaren Gasvorkommen.  

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arktis_Bodensch%C3%A4tze.gif

Allein 2022 wurden Hunderte neuer Explorationsareale angeboten. Beispielsweise soll das russische Wostok-Ölprojekt, das als das „größte Ölprojekt der Welt“ bezeichnet wird, bis 2030 den Bau eines Seehafens, zweier Flughäfen, 800 km neuer Pipelines und 15 neuer Städte in der Region Vankor umfassen. Das russische Energieministerium schätzt, dass die arktische Ölförderung bis 2035 26 % der Gesamtproduktion ausmachen wird, gegenüber 11,8 % im Jahr 2007. Norwegen hat 125 neue Ölexplorationsblöcke vor seiner Küste erschlossen, von denen die Hälfte über dem Polarkreis liegt. Dies wird eine der nördlichsten Offshore-Bohrungen der Welt sein.  

Unternehmen suchen mit Hilfe seismischer Sprengungen nach Öl- und Gasvorkommen, die tief im Meeresboden liegen, bei denen sogenannte Airgun-Explosionen verwendet werden, die 100.000-mal lauter sind als ein Düsentriebwerk – alle zehn Sekunden, 24 Stunden am Tag. Wissenschaftler wissen bereits, dass dies für Meerestiere – insbesondere Wale, die über Laute kommunizieren und ihre Umwelt über Geräusche wahrnehmen – sehr schädlich ist. Hörverlust, gestörte Paarungs-, Fress- und Migrationsmuster, Strandung sowie Tod können folgen. 17 Arten von Walen – fast ein Viertel der weltweit 93 Arten – leben zumindest einen Teil des Jahres im Arktischen Ozean. 10 der 17 sind offiziell als akut gefährdet eingestuft, andere gelten als bedroht.  

Unsere Welt kann sich die Öl- und Gasexploration im Arktischen Ozean nicht leisten. Jede Investition in arktisches Öl und Gas ist eine Investition in unsere Destruktion. Der arktische Meeresboden enthält auch viel Methan, gebunden in Form von Gashydraten. Die Freisetzung aus dem Permafrost im Meer und an Land – Boden, der normalerweise nie auftaut – kann große Mengen an Methan in die Atmosphäre freisetzen. 50 Gigatonnen könnten emittiert werden – 12 Mal mehr als derzeit in der Erdatmosphäre vorhanden ist. Kurzfristig ist Methan ein 25-mal effektiveres Klimagas als Kohlendioxid. Eine Freisetzung von 50 Gigatonnen könnte durch Naturkatastrophen Schäden in Höhe von 60 Billionen US-Dollar verursachen und die Weltwirtschaft stark beeinflussen.

Das Auftauen des Permafrostes könnte auch zur Aktivierung bislang gefrorener Krankheitserreger (Viren und Bakterien) führen, von denen bekannt ist, dass sie auch nach Jahrtausenden noch lebensfähig sind und gegen die wir möglicherweise nicht gewappnet sind.

 

Dritte vermeintliche Chance: Schutz durch militärische Positionierung

 
Russland und die NATO haben ihre Aktivitäten im Arktischen Ozean bereits vor der Annexion der Krim verstärkt. Russland hat viele ehemalige Stützpunkte aus dem Kalten Krieg reaktiviert, entlang seiner arktischen Küste ein arktisches Kommando und eine Militärbasis errichtet, vier arktische Brigaden geschaffen und alte Flugplätze und Tiefseehäfen renoviert. 30.000 NATO-Soldatinnen und -Soldaten sowie 50 NATO-Kriegsschiffe befanden sich bis Ende April 2022 in der Arktisregion bei einer Übung namens „Cold Response“ – den größten Militäraktivitäten innerhalb des Polarkreises seit den 80er Jahren. Ende Juli 2022 bekräftigte Präsident Putin, die Position Russlands in der Arktis zu stärken. Dort soll für „strategische Stabilität” gesorgt werden, indem die Nord- und Pazifikflotte ausgebaut werde. Ziel sei es, in der Arktis eine “sichere und wettbewerbsfähige" Seeroute von Europa nach Asien zu entwickeln und ganzjährig befahrbar zu machen. Die sogenannte Nordost-Passage führt an der arktischen Küste Russlands entlang. 26 Mal (Stand 29.08.2023) sind norwegische Kampfjets dieses Jahr aufgestiegen, um russische Flugzeuge im NATO-Luftraum abzufangen. Moskau hat, um seinen Anspruch auf die Polarregion geltend zu machen, bereits vor mehr als zehn Jahren Einheiten gegründet, die auf den Kampf in der Arktis spezialisiert sind. Russlands Aktivitäten versetzen die Grenzgebiete Skandinaviens in erhöhte Alarmbereitschaft. Nach dem NATO-Beitritt Finnlands – und bald wohl auch Schwedens – legte dieses Jahr seit 65 Jahren zum ersten Mal ein amerikanischer Flugzeugträger in einem norwegischen Hafen an, bevor er an Übungen mit den NATO-Verbündeten im Norden teilnahm.  

Laut westlichen Beamten besteht auch die Sorge, dass Russland im arktischen Meer kritische Unterwasserinfrastrukturen kartiert hat und Sabotageakte gegen Europa verüben könnte. Im vergangenen Monat soll die NATO daher ein Zentrum zum Schutz von Unterwasser-Pipelines und -Kabeln eingerichtet haben. Letztes Jahr hatte sich ein 44-jähriger Russe als brasilianischer Gastwissenschaftler ausgegeben, um an der norwegischen Universität zu Polarfragen zu arbeiten. Er wurde im Oktober wegen Spionage verhaftet.  

Einen Schauplatz für Krieg wünscht man sich nirgends. Aber die Arktis ist wirklich der letzte Ort, an dem wir uns das leisten können, denn der in der Ära des Kalten Krieges verklappte Atommüll liegt immer noch auf dem Grund des Arktischen Ozeans. Dazu gehört das ehemalige sowjetische Atom-U-Boot K-27, das von Experten als „mögliche radioaktive Zeitbombe“ bezeichnet wird.  
 

Vierte vermeintliche Chance: Sensibilisierung

 
2022 waren mindestens 107 mehrtägige Kreuzfahrten durchs Nordpolarmeer nördlich des Polarkreises geplant – manche sogar bis zum Nordpol – und mindestens 204 weitere kommerzielle Reisen in der Hocharktis zur Walbeobachtung oder Nordlichtbeobachtung. Viele Kreuzfahrtschiffe leiten Abwasser in gefährdete Meeresökosysteme. Die Antifouling-Farbe auf ihren Rümpfen ist giftig. Sie verbrennen Schweröl mit einem hohen CO2-Fußabdruck und entlassen weitere Schadstoffe in die Atmosphäre. Einige Arktis-Kreuzfahrtschiffe werden mit Atomkraft betrieben, anstatt Schweröl zu verbrennen. Aber diese kostspielige Technologie, die normalerweise Militärschiffen vorbehalten ist, bringt noch mehr Wärme in den Ozean und erhöht das Risiko eines nuklearen Unglücks. Zudem stören Schiffsmotoren- und Schraubengeräusche das Leben im Meer.

Darüber hinaus sind Kreuzfahrten in der Arktis gefährlich für Passagiere. Wenn in diesem abgelegenen Ökosystem etwas passiert, kann Hilfe Stunden oder Tage entfernt sein. 2018 lief die Akademic Ioffe mit 162 Menschen im Kanadischen Arktischen Archipel auf Grund. Selbst bei Windstille dauerte es 20 Stunden, bis das nächste Schiff sie erreichte. Als die Akademik Sergey Vavilov eintraf, war sie mit der Aufnahme der geretteten Passagiere gefährlich überlastet. Sie landeten in einer winzigen Nunavut-Gemeinde, die nicht in der Lage war, so viele Menschen aufzunehmen.
 

Fünfte vermeintliche Chance: Fischbestände  

 
Da Teile des Arktischen Ozeans deutlich wärmer sind, als sie natürlicherweise sein sollten und viele Arten Schwierigkeiten haben, sich an den Eisverlust anzupassen, befindet sich das arktische Ökosystem in einem kritischen Zustand. Aktuell empfiehlt das Abkommen zur Verhinderung unregulierter Hochseefischerei im zentralarktischen Ozean ein Fischereiverbot auf hoher See für 16 Jahre. Aber dieses Verbot ist noch nicht in Kraft und wird nicht ausreichen. Denn der Großteil der kommerziellen Fischerei findet nicht auf hoher See statt, sondern näher an der Küste. Die kommerzielle Fischerei im Arktischen Ozean oberhalb des Polarkreises zuzulassen, verschlimmert nur das Problem der Überfischung und des Rückgangs der globalen Fischbestände.
 

Schadstoffe von Schiffen sowie Ausrüstung kontaminieren Umwelt und Fische und gelangen in die Nahrungskette. Weiterhin zerstört Grundschleppnetzfischerei die Lebensgemeinschaften am Meeresboden, die für ein gesundes Ökosystem notwendig sind.
Es reicht nicht aus, die Fischerei auf hoher See einzustellen. Eine wirklich nachhaltige Fischerei bedeutet, dass die einzige Fischerei nördlich des Polarkreises nicht kommerziell ist und nur dem traditionellen Lebensunterhalt der dortigen Bewohner dient.
 

Sechste vermeintliche Chance: Abfalllagerung

 
Das UN-Seerechtsübereinkommen erlaubt die sog. Verklappung innerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszonen der Länder entlang der Küsten. Verklappung meint die Entsorgung von Abfällen in Gewässern. Der Begriff ist ursprünglich auf das Öffnen einer Klappe zurückzuführen. In der Regel handelt es sich dabei um flüssige Abfälle oder um Schwerölrückstände, die bei einer Schiffs- oder Tankreinigung auf See entsorgt werden. Aber Abfälle kennen keine Grenzen und können große Entfernungen zurücklegen. Die Verschmutzung des Arktischen Ozeans durch solche Aktivitäten droht dieses gefährdete Ökosystem irreparabel zu schädigen. Kunststoffe, Abfälle und Grauwasser von Schiffen töten Meereslebewesen und können Lebensräume für Jahrhunderte zerstören. Der zunehmende Schiffsverkehr erhöht die Möglichkeit einer illegalen oder unregulierteren Verklappung und Umweltverschmutzung.
 

 

Danke für Deine umfassende Einschätzung, Alexis. Im dritten Teil unserer dreiteiligen Serie „Achillessehne Arktis” zeigt Dr. Alexis Katechakis auf, wie wir die Arktis schützen können – auch damit sie uns schützen kann.